(K)ein Zeichen der Hoffnung
Drei Beispiele für die fortschreitende Normalisierung Russlands im Kultursektor trotz des anhaltenden russischen Vernichtungskrieges gegen die Ukraine.
Seit Beginn von Trumps zweiter Amtszeit lässt sich in Europa ein beunruhigender Trend beobachten. Man möchte wieder daran glauben, dass der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und der Angriff Moskaus auf die Demokratie in Europa mit einem vorübergehenden Schweigen der Waffen beendet sein würde. Man wünscht sich, dass mit einem temporären Waffenstillstand zwischen den russischen Invasionstruppen und den ukrainischen Verteidigern die Vernunft in die Herzen und Köpfe der russischen Menschen zurückkehren würde. Man hofft, dass durch ein Schweigen der Waffen die Menschen in der Ukraine und im restlichen Europa wieder friedlich mit den Menschen in Russland werden leben könnten.
Dieser chronisch deutsche Irrglaube manifestiert sich in den derzeit wieder verstärkt zu beobachtenden Bestrebungen des Politik- und Kulturbetriebs, alles Russische langsam, aber stetig aus der totalen Isolation wieder zurück auf die öffentliche Bühne zu lassen. So eröffnet zum Beispiel die Sopranistin Anna Netrebko zum ersten Mal seit ihrer Ächtung als Persona non grata die Saison des Royal Opera House in London. Auf das Engagieren der Kremlfreundlichen Sopranistin in einer Zeit beispielloser russischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesprochen, ließ der künstlerische Leiter des ROH, Jakub Hrůša, Anfang des Jahres mitteilen: „Anna Netrebko ist eine der besten Künstlerinnen in diesem Fach. Man sollte das Royal Opera House mit den besten Sängerinnen verbinden, und sie zählt dazu.“
Hrůša machte diese Aussage, obwohl ihm bekannt sein dürfte, dass alle Kunst politisch ist. Ein Beispiel hierfür ist die eng mit ihrem Entdecker und Förderer Valerij Gergiev verflochtene Karriere der Sopranistin. Gergiev ist nämlich nicht nur ein enger Vertrauter des derzeitigen russischen Präsidenten, sondern auch ein prominenter Befürworter des russischen Vernichtungskrieges. Folgerichtig unterstützte die vom Kreml als Staatskünstlerin dekorierte Netrebko bereits 2012 den Wahlkampf des Kremlherrschers. Nach dem Überfall ihres Landes auf die Krim und den Donbas spendete sie sogar 15.000 Euro an das Opernhaus der russisch okkupierten Stadt Donezk. Zu diesem Anlass ließ sie es sich nicht nehmen, mit der neo - imperialistischen Flagge „Neurusslands“ in den Händen zusammen mit dem Anführer der sogenannten „prorussischen Separatisten“, Oleg Tsaryov, für die Kameras zu posieren.
Als die deutsche Zeitung Die Zeit die Operndiva in einem Interview zu diesem menschenverachtenden Auftritt befragte, berief sich Netrebko auf die Unschuldsvermutung, verneinte, die Bedeutung der Flagge und die Identität des Mannes neben ihr gekannt zu haben, und stellte ihre vermeintliche Gutmütigkeit als Künstlerin heraus. Auf ihre - auf Instagram bestens dokumentierte - Nähe zum Machtapparat im Kreml angesprochen, antwortete die Operndiva mit einer Anekdote aus ihrem Leben. Sie habe dem Leiter der New York Metropolitan Opera, Peter Gelb, als der sie bat, sich deutlicher vom russischen Machthaber zu distanzieren, geantwortet:
„Das kann ich nicht machen! Niemand in Russland kann das. Putin ist immer noch der Präsident Russlands. Ich bin noch immer russische Staatsbürgerin, da kann man so etwas nicht machen.“
Vor allem in Deutschland schreitet die Normalisierung Russlands scheinbar unaufhaltsam voran, während in den Nachrichten tagtäglich neue Horrormeldungen über abscheuliche russische Kriegsverbrechen zu hören sind.
Zum Beispiel rief neulich der renommierte deutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk seine Follower anlässlich der Premiere der vom russischen Staat produzierten Neuverfilmung des Romans „Der Meister und Margarita“ von Mihail Bulgakow dazu auf, sich dieses vermeintliche „Meisterwerk“ unbedingt anzusehen. Er schrieb überschwänglich: „Die Neuverfilmung ist ein sagenhaftes Kunsterlebnis und zugleich ein Werk, das ein bisschen Hoffnung macht. Es ist der größte Publikumserfolg eines russischen Films in Russland und zugleich augenblicklich ein Kultfilm. Am Ende brennt Moskau nieder.“
Kowalczuk beschreibt den Macher des Films als Kriegsgegner und Unterstützer der Ukraine. Er gibt zu verstehen, dass eben jener Regisseur in mehreren Interviews gesagt habe, es gäbe erst wieder Hoffnung für Russland, wenn Putin tot sei, und dieser Film helfe zu verstehen, warum das so sei. Interessanterweise stammt die einzige öffentlich zugängliche Information zu dieser Behauptung aus dem russischen Exilmedium Meduza. Das ist übrigens jene russische Medienplattform im Exil, die international für Empörung sorgte, als sie unlängst in einer geschmacklosen Kampagne mit den Gesichtern ukrainischer Kriegsopfer für ihren unabhängigen,russischen Journalismus warb.
Als jemand, der Kowalczuks Bücher mit Begeisterung liest und auch sonst die meisten seiner publizierten Ansichten über die russischen Verbrechen verfolgt, war ich über diese Aussage dermaßen verwundert, dass ich mich sofort entschloss, eine einmalige Ausnahme zu machen und die russischen Produzenten eines vom russischen Verbrecherstaat produzierten Films mit dem Kauf eines Kinotickets zu unterstützen.
Wobei das mit der ‚einmaligen Ausnahme‘ für deutsche Bürgerinnen leider gar nicht zutreffen kann, auch wenn man es noch so sehr versucht. Denn mehrere deutsche Regierungen haben durch ihre bisher rechtlich leider unaufgearbeiteten Geschäfte mit dem Kreml die Gasleitungen Nord Stream 1 und 2 politisch ermöglicht und so dem russischen Krieg Vorschub geleistet. (Die Umgehung der Ukraine als Transitland und die enormen, zusätzlichen Einnahmen für die staatlichen russischen Gasfirmen haben es Russland überhaupt erst ermöglicht, den seit 2014 begonnenen Krieg in der Ukraine im Jahr 2022 auf das gesamte Land auszuweiten.)
Zwar hat die vorherige deutsche Regierung in einer titanischen Anstrengung des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck und seines Ressorts die Deutschen und ihre Wirtschaft aus der totalen Abhängigkeit vom russischen Gas befreit. In der Zwischenzeit hat sich jedoch eine neue, mindestens ebenso fatale Energieabhängigkeit ergeben: die Abhängigkeit der deutschen Agrarwirtschaft von billigem russischem Düngemittel. Eine weitere Abhängigkeit im Energiesektor also, die der deutschen Wirtschaft im Falle eines Angriffs Russlands auf einen NATO-Staat genauso das Genick brechen könnte, wie es die Abhängigkeit von billigem russischem Gas im Jahr 2022 fast getan hat.
Man kommt als Einwohnerin Deutschlands also einfach nicht von Russland los, egal, was man versucht – zu verschlungen sind leider unsere, teils aus der DDR-Diktatur herrührenden, wirtschaftlichen Beziehungen und kriminelle Seilschaften.
Aber zurück zum Film; um eines vorwegzunehmen: Man sollte sich diesen Film keinesfalls anschauen. Das wurde mir im Anschluss an die Vorstellung auch von den wenigen anderen Zuschauern einhellig bestätigt.
Der Film ist weder ein Meisterwerk noch ein Kultfilm. Vor allem aber ist er nicht, wie Kowalczuk an seine Fans schreibt, ein „Zeichen der Hoffnung“, sondern viel eher ein Zeichen der Verzweiflung.
Denn für ein russisches Publikum, welches den Vernichtungskrieg seines Landes gegen die Ukrainerinnen erfolgreich verdrängt und somit mitträgt, muss dieser Film nicht nur wie ein betäubendes Opiat wirken. Für ein von Selbstmitleid geplagtes Publikum, dem von den russischen Staatsmedien Tag für Tag die Rolle des ewigen Opfers eingeredet wird, muss dieser Film geradezu wie eine Bestätigung dieser staatlich konstruierten Identität als handlungsunfähiges Kollektiv wirken, dessen Entpuppung zum Schmetterling sich jährlich am sogenannten „Tag des Sieges“ vollzieht.
Dass es die fehlende Aufarbeitung sowjetischer Verbrechen in einem Sondertribunal ist, die es den Russen heute überhaupt ermöglicht, den Krieg gegen die Ukraine alljährlich am 9. Mai mit monströsen Militärparaden als gerechte Fortsetzung des historischen Kampfes gegen den Nazismus zu feiern, ist noch immer vielen Menschen im westlichen Europa zu wenig bewusst. Sie wissen auch nicht, dass das krankhafte Selbstbild der russischen Zivilgesellschaft ein aus derart vielen Lügen gewickeltes Knäuel ist, dass es unmöglich wäre, dieses gefährliche Gebilde anders zu lösen, als es Alexander der Große getan hat.
Für jene, die den Roman von Bulgakow gelesen haben, ist diese Verfilmung eine eindrucksvolle Studie staatlich russischer Propaganda. Der Filmemacher hat sein Werk nämlich aller kritischen Elemente der Romanvorlage beraubt, sodass man meinen möchte, der Film wäre sogar in stalinistischen Zeiten durch die Zensur gekommen – ein Kunststück, welches dem Urheber mit seinem posthum veröffentlichten Roman bis weit über seinen Tod hinaus jedenfalls nicht vergönnt war. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass Josef Stalin den Schriftsteller Bulgakow zeitlebens protegierte indem er mehrmals seine schützende Hand über die Karriere des widerspenstigen Dichters hielt. Ebenfalls Interessant ist am Rande auch, dass der Techno-Faschist Peter Thiel diesen Roman als eines seiner Lieblingsbücher bezeichnet.
Aber bleiben wir bei der Filmadaption, die letztes Jahr in Russland an den Kinokassen alle Rekorde gebrochen hat. Die zentrale Frage sollte sein, warum dieser vermeintlich regierungskritische Film in Russland überhaupt in den Kinos gezeigt werden konnte. Wie konnte er die strenge staatliche Zensur passieren? Das ist eine wirklich interessante Frage, insbesondere mit Blick auf die Machart des Films.
Nachdem ich mir dieses ‚Meisterwerk‘ angesehen habe, kann ich die Frage wie folgt beantworten: Es war möglich, weil der Film vollkommen harmlos ist.
Diese Literaturverfilmung unternimmt nämlich nicht einmal den vorsichtigen Versuch, Kritik am heutigen Russland zu üben. Sie stellt keinerlei erkennbare Bezüge zur heutigen Zeit her.
Der Film spielt vielmehr in einem Fantasieland, das einer idealisierten Vision des kommunistischen Sowjetreiches entspricht und daher mit der historischen Realität, in der der Autor der Buchvorlage lebte, wenig zu tun hat. Folgerichtig ist auch die damals im realen Russland allgegenwärtige Figur Stalins im Film nirgends zu sehen. Eine Statue Lenins taucht allerdings für Sekundenbruchteile auf. Diese Auslassung und dieser Akzent sind bedeutend, denn während Lenin zu den Feindbildern des aktuellen russischen Regimes zählt, erfährt der grausame Diktator Stalin in den modernen Schulbüchern des heutigen Regimes eine grundlegende Rehabilitation. Stalin-Monumente in der Moskauer Metro werden restauriert und in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine werden sogar Stalin-Denkmäler errichtet. Die drohende Präsenz des Diktators ist auf jeder Seite von Bulgakows Romanvorlage spürbar. Stalin – und damit die scharfe Anklage des Schriftstellers gegen ihm – im Film auszulassen, kann also nicht anders gelesen werden als ein freundlicher Gruß an das heutige Regime.
Jedoch hätte man als Filmemacher noch viele andere Möglichkeiten, wenn schon nicht in der Ausstattung, so doch im Schnitt, im Arrangement der Szenen eine echte Relevanz zur politischen Gegenwart herzustellen. Dafür gibt es zahlreiche, subversive Beispiele aus der Filmgeschichte der Sowjetdiktatur. Aber dieser Film tut nichts dergleichen. Wenn es Anspielungen an die Gegenwart gibt, dann sind sie leider aus anderen Gründen bemerkenswert. Ein Beispiel hierfür ist, dass die Uniformen der Moskauer Polizisten denen der englischen Bobbies ähneln. Das ist seltsam, wenn man bedenkt, dass die Metropolitan Police auf dem Prinzip der Polizeiarbeit durch Zustimmung und nicht durch Gewalt gegründet wurde.
Ein anderes Beispiel ist eine beiläufige Straßenszene, in der Kinder mit preußischen Pickelhauben die Erschießung anderer Kinder spielerisch nachstellen und sie „weißes Gesindel“ schimpfen. Im Anbetracht der Tatsache, dass die russische Staatspropaganda den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine als Kontinuität des ewigen Krieges gegen die Deutschen Nazis verkauft, stellen sich einem bei einer solchen Inszenierung keine Fragen mehr.
Der Film ist nicht mal im Ansatz subversiv, eher ist er im Stil einer belanglosen Liebeschmonzette mit typisch-russisch-misogynem Touch inszeniert. Der Hauptdarsteller ist ein phlegmatischer Künstlertyp, der sich erst durch die aufopferungsvolle Liebe seiner Muse zum stoischen Helden der Erzählung mausert. Dabei wurde seine Partnerin, die literarisch hochspannende Figur der Margarita mitsamt ihren im stalinistischen Russland durchaus revolutionären freiheitlich-feministischen Elementen im Film auf eine allein dem Mann dienende, dekorative Puppe ohne Eigenleben reduziert.
Aber damit nicht genug. Bulgakows größter Wurf, die Neuerzählung der Geschichte Jesu und des Pontius Pilatus wurde aller alternativen Elemente zur Bibel beraubt und wirkt, als wäre sie im heutigen Afghanistan der Taliban produziert worden. War die alternative Erzählung der Geschichte Jesu, hervorgehoben durch das Narrativ der Figur des Evangelisten Levi Matthäus, für Michail Bulgakow noch ein wichtiges Werkzeug, um die Unterdrückung der Religion in Stalins Russland deutlich zu kritisieren, so fehlt dieses Element im Film nahezu volkommen. Dies wird vor allem durch die Streichung der Figur des Levi Matthäus deutlich.
Das im Übrigen alles, was nicht der Bibel entspricht, weggelassen wurde, spricht Bände in einem modernen russischen Gottesstaat, dessen geistliches Oberhaupt, der ehemalige KGB-Spion Vladimir Gundyayev, zum heiligen Krieg gegen den Satan „Gayropa“ aufruft und russische Mittelstreckenraketen segnen lässt. Die vielleicht schlimmste Selbstzensur des vermeintlich oppositionellen Regisseurs besteht jedoch darin, die klare Trennung zwischen den im Buch sehr realen und fantastisch absurden Moskauer Wirklichkeiten aufzuheben. Erscheint in Bulgakows Romanvorlage der Teufel tatsächlich im stalinistischen Moskau,so ist die Erscheinung im Film lediglich ein Produkt der Fantasie des Autors, des „Meisters“ der Geschichte, der sich alle Vorfälle für seinen Roman „Der Meister und Margarita“ ausdenkt. Mit diesem Kunstgriff des Regisseurs wird jegliche Kritik Bulgakows am System bis zur Unkenntlichkeit verwässert.
Ein weiterer, problematischer Aspekt des Films ist die deutlich religiös konnotierte Stilisierung der Figur des intellektuellen Künstlers, der sich der ‚Meister‘ nennt, zum christlichen Märtyrer. Die Ausstattung des Films arrangiert diese Figur derart auffällig oft mit Kreuzförmigen Fenstern und anderen Christus Symbolen, damit auch das Publikum in der letzten Reihe den Märtyrer -Bezug begreifen soll. Über den in Russland quasi-religiösen Kult des Dissidenten als todesverachtenden, stoischen Märtyrer hat die Osteuropahistorikerin Franziska Davies einen sehr lesenswerten Artikel geschrieben. Die Botschaft hinter diesem Kult ist nicht subversiv, im Gegenteil: für das Publikum ist sie passiv fatalistisch. Damit spielt der Film direkt auf der Klaviatur der russischen Staatspropaganda, deren endgültiges Ziel immer die Zersetzung jeglichen aktiven Widerstands und die Verbreitung von Hoffnungslosigkeit ist, um totale Passivität in der Gesellschaft herbeizuführen.
Dazu passt auch, dass der konfliktreichste Charakter des Romans und zugleich dessen heimliche, tragische Hauptfigur – der glücklose, mäßig talentierte Staatsschriftsteller Besdomny (zu Deutsch „der Unbehauste“) – zum Nebendarsteller einer Liebesschmonzette zwischen dem großen „Meister“ und seiner schaufensterpuppenartig hölzernen „Margarita“ degradiert wird. ‚Besdomny‘ ist übrigens im Roman die Figur, welche als Einzige eine Wandlung vom Mitläufer zum Regimekritiker durchmacht.
Es ist interessant, dass die Regie sich dazu entschieden hat, sämtliche Dialoge mit dem Teufel (der im Buch als Ausländer beschrieben wird) komplett auf Deutsch zu inszenieren. Der gedankenlosen russischen Bevölkerung wird auf diese Weise nämlich nicht etwa ein Spiegel vorgehalten; sondern es wird ihm das staatlich-russische Narrativ des ewigen Widersachers in Gestalt eines den Teufel verkörpernden Deutschen präsentiert.
Russische Staatsmedien spinnen seit Jahrzehnten die Geschichte, das der Kampf gegen den deutschen Nazismus seine Fortsetzung im Kampf gegen den vermeintlichen Nazismus in der Ukraine findet. Vor diesem Hintergrund ist die Inszenierung des Teufels als Deutscher mehr als perfide und erinnert auf ungute Weise an den problematischen Film ‚Underground‘ (1995) des serbischen Imperialisten und persönlichen Freundes des russischen Präsidenten, Emir Kusturica.
Eine weitere, verstörende Fußnote ist, daß die wenigen Szenen aus dem Leben Jesu - wohl als Hommage an den Film „Die Passion Christi“ des Rechtsradikalen Mel Gibson - auf Hebräisch und Latein inszeniert wurden.
Die Romanvorlage endet übrigens damit, dass das künstlerische Werk des ‚Meisters‘, die Figur des Pilatus, durch seine Wahrhaftigkeit von seinen Höllenqualen der Mittäterschaft an Jesu Tod erlöst.
Hier nimmt der Film eine bedeutende Zensur vor, um nicht in den Verdacht zu kommen, die Mittäterschaft der russischen Bevölkerung am heutigen Krieg auch nur anzudeuten: denn die Filmerzählung fokussiert sich darauf, dass die unglücklich Liebenden in einem imaginierten Happy End gemeinsam vor dem Kamin kuscheln. Indem der Film damit den perfiden Versuch unternimmt, den russischen Totalitarismus und Imperialismus zu universellen Problemen der menschlichen Natur umzudeuten - vor denen uns nur die Liebe erretten kann – wird dieses Machwerk seiner vermutlichen Funktion als Entlastungsventil für die schuldgeplagte, russische Publikumsseele mehr als gerecht. Das würde jedenfalls erklären, warum der russische Staat diesen Film nicht nur finanzierte, sondern warum er ihn auch alle Hürden der Zensur hat nehmen lassen, um ihn so zu dem Publikumserfolg werden zu lassen, als der er jetzt in Russland gefeiert wird.
(Übrigens ist auch der Epilog des Buches aus dem Drehbuch gestrichen. Dort nimmt sich Bulgakov mit großer Ironie der Sinnlosen Versuche des totalitären Systems an, dem vom Teufel hinterlassenen Chaos in Moskau Herr zu werden).
Was der Däne Claes Bang und der Deutsche August Diehl in diesem Machwerk zu suchen haben, will ich allerdings nicht beurteilen. Auch ich habe in meiner Vergangenheit des Geldes wegen an russischen Filmproduktionen mitgewirkt, was ich spätestens seit dem 24. Februar 2022 zutiefst bereue. Als logische Konsequenz daraus hat sich für mich ein intensives, ehrenamtliches Engagement für den Freiheitskampf der Ukraine ergeben. Es ist jedenfalls zu hoffen, dass eine ähnliche Einsicht die beiden westeuropäischen Protagonisten dazu bewegen wird, einen Teil ihrer üppigen Gage an das ukrainische Militär zu spenden.
Was aber hat den renommierten Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bewogen, so ein Machwerk in den Himmel zu loben? Hat er den Film womöglich gar nicht gesehen? Ich bewundere Kowalczuks Arbeit als Historiker, ich lese seine Bücher und ich halte viel auf seine Meinung. Deshalb habe ich ihn bei einer seiner jüngsten Buchlesungen auf seinem Empfehlung dieses Films angesprochen. Kowalczuk bestätigte, dass er den Film tatsächlich gesehen hatte, bezog sich in seiner Antwort jedoch nicht auf den Film selbst, sondern betonte erneut, dass der Regisseur als pro-ukrainisch wahrgenommen worden sei und vom Regime angegriffen worden sei.
Die Berliner Galerie Nagel Draxler zeigt derweil die Ausstellung „WANTED“, in der Werke der russischen Feministin und Pussy-Riot-Sängerin Nadeshda Tolokonnikova präsentiert werden. Sie lebt seit ihrer Haft im US-amerikanischen Exil und möchte nun auch in Europa Geld verdienen. Im Guardian bewarb sie ihre feministische Kunst mit den Worten, dass sie zwar etwas gegen die Korruption in der russisch-orthodoxe Kirche habe, aber ansonsten jedem Russen empfehle, stolz auf das historische Erbe dieser Religion zu sein. Ihre Ankündigung im selben Interview, sich nun auch auf der Plattform „OnlyFans“ für Geld zu prostituieren, stiftet zusätzlich Verwirrung. Ganz im Stil der russischen Opposition im Exil dreht sich ihre Ausstellung um sie selbst und um ihr Leiden in russischer Gefangenschaft.
Das Zentrum der Ausstellung bildete nämlich eine begehbare Nachbildung ihrer Gefängniszelle. Daneben lagen fein säuberlich geführte Aktenordner aus, in denen Tolokonnikova akribisch die Namen aller an ihrer Verurteilung schuldigen Beamten und Gefängnisleiter dokumentiert und abgeheftet hatte. Beim Durchsehen dieser Aktenordner kommt einem unweigerlich der Gedanke: Warum thematisiert die Feministin Tolokonnikova eigentlich nur das an eigenem Leib erlebte Unrecht? Warum gibt es keine Arbeit, die zum Beispiel auf die systematischen Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch die russischen Soldaten aufmerksam macht? Oder die Verschleppung der über 20,000 Ukrainischer Kinder durch den russischen Staat thematisiert? Weiss sie etwa nicht, dass Russland schon ein Unrechtsstaat war, bevor sie geboren wurde? Warum bezieht sie als regimekritische Künstlerin also keine Stellung zu den Verbrechen, die ihre Landsleute seit über einem Jahrzehnt an Menschen in der Ukraine begehen? Oder kümmert sie das nicht?
Wahrscheinlich nicht, denn ihre politischen Statements in der Ausstellung drehen sich um Sex als revolutionären Akt, um die Asche des russischen Führers und um ihre enge Freundschaft mit dem ermordeten russischen Oppositionellen, Nationalisten und Rassisten Alexey Navalny. Ihm hat sie sogar ein eigenes Kunstwerk aus Birkenholz und altslawischen Runen gewidmet.
Als ich zwei Besucherinnen fragte, ob ihnen die Auslassung des Themas Ukraine nicht auch wie eine Leerstelle vorkomme, sagten mir die zwei Deutschen, dass sie es im Gegenteil gut fänden, dass sich eine feministische Künstlerin den Raum nehme, in diesen Zeiten nur über sich selbst und über ihre Kunst als Frau zu arbeiten. „Künstlerinnen müssen sich nicht zu jedem Krieg äußern“, sagten die beiden Frauen mir noch zum Abschied.
Unwillkürlich kommt einem der Gedanke, dass die Deutschen vielleicht gerade deshalb zu einer solchen Sympathieleistung gegenüber russischen Menschen fähig sind, weil ihre Vorfahren im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Täter waren und sie seitdem mit den Reaktionen auf die Nachwirkungen dieser Taten leben mussten.
Als Deutscher kann man nachvollziehen, wie sich Angehörige eines Tätervolkes fühlen. Man kann sich sogar nach Vergebung als dem Akt des gegenseitigen Verständnisses sehnen.
Dass der russische Vernichtungskrieg jedoch nach wie vor tobt, die bisherigen russischen Verbrechen noch nicht einmal ansatzweise bestraft wurden und die furchtbaren Verbrechen der sowjetrussischen Besatzung in der Ukraine, in Lettland, Estland, Litauen, Finnland, Moldau und anderen ehemals russisch besetzten Ländern ganz außer Acht gelassen werden, macht diese Haltung für Außenstehende schwer nachvollziehbar. Aber genau das passiert gerade in Deutschland, und dieser Trend macht mittlerweile selbst vor intellektuellen Kreisen nicht mehr halt.
Diesen Sonntag, den 25. Mai 2025 wird Russlands kulturelles Feigenblatt Anna Netrebko übrigens als selbstlos liebende ‚Leonore‘ in Giuseppe Verdis „Il trovatore“ das Publikum der Staatsoper Unter den Linden beglücken.
Den russischen Völkermord vollständig auszublenden, wird bei dieser Vorstellung jedoch nicht möglich sein, denn die ukrainische Organisation Vitsche stellt zeitgleich einen von russischen Soldaten zerschossenen ukrainischen Krankentransporter auf der Straße vor der Staatsoper aus.
Die Ukrainerinnen wollen das Publikum daran erinnern, dass Russinnen und Russen sie wie die Nazis damals als Untermenschen betrachten und vernichten wollen.
P.S. Mit "weißes Gesindel" wird auf die Weißgardisten angespielt, also die vormaligen Opponenten der Bolschewiki = Rotgardisten.
Danke, Kristian Kiehling, für diese detaillierte und kritische Betrachtung des Films "Meister und Margarita". Ich wurde durch I.-S. Kowalczuks Post auf FB auf Ihren Artikel hier gebracht.
Mir bringt Ihre Sicht sehr viel, mich wunderte das "Millionenpublikum" in Moskau und anderen russ. Städten auch schon...
Eine Korrektur muss ich anmerken: "...beiläufige Straßenszene, in der Kinder mit preußischen Pickelhauben die Erschießung anderer Kinder spielerisch nachstellen und sie „weißes Gesindel“ schimpfen." Sie können offenbar folgendes nicht wissen:
Dass Sie bei den spielenden Kindern eine preußische Pickelhaube identifizieren, macht mich schmunzeln – entweder sind Sie zu jung oder anders sozialisiert... in der DDR und im Ostblock kannte jedes Kind von Fotos und aus Filmen die Kopfbedeckung von Budjonnys 1. Reiterarmee, die Budjonny-Mütze (-Haube).
Semjon M. Budjonny (1883-1973) war ein legendärer General der Roten Armee.
Was die Bobby-Hüte der Polizisten betrifft, habe ich keine Ahnung, wie dieselben der echten Moskauer Polizisten in den 1930er Jahren aussahen bzw. weshalb der Film solche zeigt.
Mit Dank für Ihre differenzierte Betrachtung und freundlichem Grüßen
Knut Harnisch, Berlin, k.harnisch@gmx.de